(Auswahl/Ausschnitte)
Klaus Reichold ist seit seiner Schulzeit als Ausstellungs-, Buch-, Musik- und Theaterrezensent unterwegs. Außerdem verfasst er historische Essays und Künstlerportraits.
Zu seinen Interviewpartnern zählten u.a. Franz Herzog von Bayern, Thomas Hampson, Hans Pleschinski, Martin Walser und Richard von Weizsäcker.
Die „Goldenen Zwanziger“: Wer denkt da nicht an die schillernde Metropole Berlin, an Tanztees mit Jazzbands in den Foyers mondäner Hotels, an Vorführungen von „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ in den legendären Filmpalästen der Stadt, an glamouröse Varietés mit zweifelhaftem Publikum und sündige Nächte voller Sex, Rausch und Drogen?
Dank der Krimiserie „Babylon Berlin“, deren dritte Staffel ab Herbst 2020 im Ersten ausgestrahlt wird, wissen wir zwar mittlerweile, dass auch vor hundert Jahren galt, was der Dramatiker Friedrich Hebbel 1836 in seinem Tagebuch notiert hatte, nämlich: „Es ist nicht alles Gold, was glänzt“. Trotzdem ist es schon eine gehörige intellektuelle Herausforderung, die „Goldenen Zwanziger“ mit dem Alltag im ländlichen Oberbayern zusammenzubringen: „Babylon Berlin“? Ja, klar! Aber „Babylon Baiernrain“? Hilfe!
Macht sich die Ausstellung des Etikettenschwindels schuldig? Nein, im Gegenteil. Denn im Titel der Ausstellung stehen die „Goldenen Zwanziger“ in Gänsefüßchen. Das passt nicht nur besser zum bäuerlichen Ambiente. Das lässt auch erahnen, dass sich die Ausstellungsmacher um Kurator Jan Borgmann (der auf der Glentleiten für die „Volkskundliche Sammlung“ zuständig ist) selber gefragt haben, ob und wenn ja, in welcher Hinsicht die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Oberbayern als Blütezeit bezeichnet werden können …
Schon der Bau ist eine Wucht: eine gigantische, halbrunde, mit Donaukalk verblendete Festung des 19. Jahrhunderts; ursprünglich umwehrt von Gräben, Wällen und Erdanschüttungen; geschützt von meterdicken Mauern; erschlossen von zwei monströsen Treppentürmen; im Obergeschoss regelrecht gespickt mit 36 (!) tonnengewölbten Geschützkasematten, um gegen den Feind gerichtete Kanonen in Stellung zu bringen. Die Grundidee geht auf Albrecht Dürer zurück, der nicht nur ein genialer Maler, Mathematiker und Kunsttheoretiker war, sondern auch ein Pionier der Kriegsbaukunst. Die eigentliche Konzeption stammt vom Ingolstädter Festungsbaudirektor Michael von Streiter. Und die in der Sonne gleißenden, klassizistischen, monumental-abweisenden Fassaden hat niemand Geringerer als Leo von Klenze entworfen, der königliche Oberbaurat und Hofarchitekt, der auch als Schöpfer der Münchner Glyptothek, der Alten Pinakothek oder der Ruhmeshalle in die Geschichte eingegangen ist …
Was ist über Ludwig II. von Bayern nicht alles gesagt und geschrieben worden. Er habe von Politik keine Ahnung gehabt, sein weiß-blaues Vaterland an die Preußen verscherbelt, mit seinen Schulden die Staatskasse ruiniert. Seine Architekturträume müsse man als „zweifelhaft“ bezeichnen, beziehungsweise als „unzweifelhaft missglückt“. Homosexuell allerdings könne er keinesfalls gewesen sein. Schließlich fänden sich an den Wänden und Decken seiner Schlösser unzählige Darstellungen von leicht bis gar nicht bekleideten Frauengestalten.
Ja, wenn es nur so einfach wäre! Wie oft muss Hermann Rumschöttel bei den Recherchen zu seiner brillanten Studie über Ludwig II. aufgestöhnt haben – etwa dann, wenn er in der üppigen Literatur zum einhundertelften Male auf ein Klischee stieß, das eigentlich nur dazu dient, das „naive Bild vom Märchenkönig“ in den Köpfen zu verfestigen. Genau dieser Tendenz stellt der ehemalige Generaldirektor der Staatlichen Archive Bayerns sein bei C.H. Beck in der Reihe „Wissen“ erschienenes Kurzportrait über Ludwig II. entgegen.
Es geht ihm um „Zuverlässigkeit“, nicht aber um Besserwisserei. Obwohl er die Quellen zum Märchenkönig besser kennen dürfte als manch anderer Autor, maßt sich Hermann Rumschöttel nicht an, die Wahrheit zu kennen. Das sei schon deshalb unmöglich, weil der mysteriöse „Aktenschwund“ nach der Königskatastrophe von 1886 „der Geschichtswissenschaft bis heute die Arbeit“ erschwere ...
Eine rund dreieinhalb Kilometer lange Stadtmauer mit neunundzwanzig Türmen und sechs großen Toranlagen, eine Hauptkirche mit himmelhohem Gewölbe im Stil der großen abendländischen Kathedralen, ein imposantes Rathaus mit prächtiger Renaissance-Fassade – Rothenburg ob der Tauber hat eine stolze Vergangenheit. Heute zählt die einstige Reichsstadt zwar nur 11.000 Einwohner. Dafür gilt das fast vollständig erhaltene Architekturjuwel mit seinen verwinkelten Gassen und malerischen Fachwerkhäusern als Inbegriff deutscher Romantik. Wenn, wie jetzt vor Weihnachten, die weiße Pracht dazukommt, meint man, ein Wintermärchen zu erleben: Die überzuckerten Weinberge von Albert Thürauf am Abhang zur Tauber, das wirbelnde Flockenspiel vor dem nächtlich beleuchteten Burgtor, die Feuerzangenbowle auf dem adventlichen Reiterlesmarkt – Kitsch ist eben nicht zwangsläufig "der unverfälschte Ausdruck des Verfalls aller Kultur", wie der alte Adorno murrte. Kitsch kann auch ein bezauberndes Postkartenidyll sein, in das man lustvoll eintauchen möchte. Diesem Drang geben in Rothenburg jedes Jahr mehr als zwei Millionen Besucher aus aller Herren Länder nach. Sie schlendern über die Judengasse mit der Mikwe aus der Zeit um 1410, bewundern die Kunstuhr am Giebel der Ratsherrntrinkstube und lassen sich dazu einen Schneeballen schmecken – ein ortstypisches, kanonenkugelartiges Gebäck aus mürbem Eierteig, an dem sich mancher die Zähne ausbeißt ...
Manchmal kommt einem München im Vergleich zu anderen Großstädten ziemlich bescheiden vor. Es gibt nicht so viele Drogensüchtige wie in Hamburg, nicht so viele Gedenkstätten wie in Berlin und nicht so viele Katzen wie in Rom, außerdem keine Brühlsche Terrasse, keine Docklands, keinen Hradschin und keinen Zentralfriedhof. Den Fernsehturm müßte man um gute 150 Meter aufstocken, damit er die Spitze des Empire State Building erreicht. Und die Bayerische Staatskanzlei kann trotz ihrer wunderschönen Zirbelstube nicht mit dem Élysée-Palast an der Rue du Faubourg-Saint-Honoré mithalten. Dennoch galt München jahrzehntelang als „Heimliche Hauptstadt Deutschlands“. Das lag zum einen daran, daß in der jungen Bundesrepublik kaum jemand wußte, wo Bonn eigentlich genau liegt, zum anderen an Franz-Josef Strauß, der die Isar-Metropole nachdrücklich ins Rampenlicht zu rücken verstand. Außerdem wurde in der Vergangenheit von München aus ja schon einmal – wenn auch nur zeitweise – halb Deutschland regiert: Kurfürst Karl Theodor beispielsweise herrschte nicht nur über Bayern, sondern auch über das Herzogtum Jülich-Berg mit der Hauptstadt Düsseldorf, über die Kurpfalz mit Heidelberg und Mannheim sowie über Pfalz-Neuburg – ganz zu schweigen davon, daß nachgeborene Münchner Wittelsbacher als Kurfürsten von Köln, als Fürstbischöfe von Hildesheim, Münster, Osnabrück oder Paderborn Territorien über Territorien an sich rafften, deren Dialekte sie nicht einmal ansatzweise verstanden ...
Der 19-jährige Heinrich, ein Sohn Kaiser Friedrich Barbarossas, ahnte nichts Böses, als er am 26. Juli 1184 mit großem Gefolge im oberen Stockwerk der Erfurter Dompropstei Platz nahm. Er sollte einen Streit zwischen dem Erzbischof von Mainz und dem Landgrafen von Thüringen schlichten – eine Routineangelegenheit für den jungen Fürstensproß, mehr nicht. Dann aber passierte es: Ein ohrenbetäubendes Geräusch wie ein Peitschenknall, ein gewaltiges Bersten und Krachen – und der morsche Holzboden, der „das Gewicht so vieler großer und edler Männer nicht gewohnt war“, brach durch. Mit panisch geweiteten Augen und ohne jede Rücksicht auf die sonst so strenge hierarchische Ordnung purzelten Äbte und Bischöfe, Grafen und Fürsten, Ritter und Bürger der Stadt Erfurt durcheinander, durchschlugen auch noch den Fußboden des Erdgeschosses und stürzten kopfüber in die darunterliegende, äußerst geräumige und seit Jahren nicht mehr geleerte Latrinengrube. Rund 60 Würdenträger ließen in dem „scheußlichen Unflat“ auf wenig rühmliche Weise ihr Leben. Heinrich überstand das apokalyptische Szenario nur um Haaresbreite: Er war in einer gemauerten Fensternische gesessen und konnte mit Hilfe einer Leiter gerettet werden. Doch der Schreck saß tief: Er ließ sein Pferd satteln und kehrte der Stadt umgehend den Rücken – verfolgt vom „pestilenzischen Odem“, der dem Ort der Tragödie entströmte. Der „Erfurter Latrinensturz“ wirft ein bezeichnendes Licht auf die hygienischen Verhältnisse im deutschen Mittelalter und macht vor allem eines deutlich: Es stank allerorten zum Himmel ...
Die monumentale Schönheit des Gebirges beeindruckte ihn. Doch die Schlaglöcher der staubigen Alpenstraßen forderten ihren Tribut: In Brixen verlangte der preußische Kammerherr Otto Carl Erdmann von Kospoth nach Schrauben, weil seiner Kutsche, von Innsbruck kommend, an diesem Tag schon zweimal das linke Vorderrad abhanden gekommen war. Auf der Weiterfahrt in Richtung Süden kam es noch schlimmer: Der hochwohlgeborene Reisende mußte laut eigenem Zeugnis „die schrecklichsten Wege und Abgründe passieren, dazu war es sehr finstere Nacht, hatte zwey sterische Pferde und einen besoffenen postillon, daß mir beinahe der Muth zum Schlafen verging“. Erst am nächsten Morgen, auf der Höhe von Bozen, wurde ihm wieder wohler: „Die Gegend herum gleicht den schönsten Gärten, und man sieht alle Gebürge voll Wein bepflanzt“, notierte Kospoth am 21. Juli 1783 in seinem Tagebuch – um gute vierundzwanzig Stunden später von neuem Ungemach heimgesucht zu werden: Hinter Trient „überrumpelte“ ihn das heftigste Gewitter, „welches ich in meinem Leben erfahren habe; es schlug alle Minuten ein, die Leute aber lachten dazu, weil sie das schon mehrer gewohnt sind“. Zu diesem Zeitpunkt war Kospoth bereits knappe drei Monate unterwegs ...
Selbst tief in der Nacht brannte in den vergangenen Wochen noch Licht im Neuburger Schloß. Doch jetzt ist alles fertig: Bei Kaiserwetter wurde am Donnerstag die Landesausstellung „Von Kaisers Gnaden“ eröffnet – mit Fanfarenstößen, Trommelwirbeln, Landsknechten und einer bellenden Meute von Jagdhunden. Damit feiert die Stadt an der Donau nicht nur den Abschluß der jahrzehntelangen Sanierung des Schlosses, die fast 30 Millionen Euro verschlungen hat. Mit der Ausstellung werden auch jene längst vergangenen Tage wieder lebendig, als das Schloß noch eine fürstliche Residenz war. Denn obwohl Neuburg heute eher am Rand der großen Touristenströme liegt „und sogar der Spargel nach der Nachbarstadt Schrobenhausen benannt ist“, wie Claus Grimm, der Direktor des Hauses der Bayerischen Geschichte, in seiner Ansprache meinte, bleibt eines festzuhalten: Im 16. Jahrhundert war Neuburg ein kultureller Mittelpunkt von europäischem Rang. Denn Pfalzgraf Ottheinrich liebte nicht nur die Frauen und den Wein, seine Bücher und gelehrte Debatten. Er war auch ein manischer Bauherr, Sammler und Kunstmäzen. Zeitweise beschäftigte er ganze Heerscharen von Bildhauern, Buchmalern, Erzgießern, Goldschmieden, Plattnern, Teppichwebern – und vieles von dem, was die Künstler für Ottheinrich geschaffen haben, bevor es in alle Himmelsrichtungen zerstreut wurde, ist jetzt aus den Museen der Welt für ein paar Wochen nach Neuburg zurückgekehrt ...
"Wenn alle Strick' reißen, häng' ich mich auf" heißt Gerd Holzheimers "Lexikon über österreichische Kultur und deren Befindlichkeiten", erschienen 1997. Doch auch die Titel anderer Bücher des Doktors der Philosophie, der auf einem anthroposophischen Hof in Niederbayern eine landwirtschaftliche Lehre absolviert hat und heute am Kurt-Huber-Gymnasium in Gräfelfing sowie als Lehrbeauftragter für Bayerische Literaturgeschichte und Deutsche Philologie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität unterrichtet, haben es in sich. "Querfurt. Von der Kunst des Danebenreisens" nennt sich beispielsweise ein Erzählband aus dem Jahr 1994. Und mit "Krachen lassen" ist eine Art Brauchtumskalender aus dem Jahr 1999 überschrieben, der nach den Worten seines schelmisch veranlagten Autors "quer durch das bayerische Jahr" führt, "aber schräg". Schade, daß Gerd Holzheimer mit seinem jüngsten Titelvorschlag auf Granit zu beißen droht. "Das Trüffelschwein in der Montgolfiere" hätten seine "Perspektiven im Fünf-Seen-Land" heißen sollen. Doch der Verlag zögert. Kann man dem Leser, insbesondere dem Starnberger, um dessen Seenlandschaft es geht, ein Buch mit einem solchen Titel zumuten? ...
Für fromme Pietistenseelen und andere schwache Gemüter ist Ben Hur nur bedingt geeignet. Und das, obwohl es sich bei dem Werk um einen religiösen Erbauungsroman handelt, veröffentlicht 1880 von einem gewissen Lewis Wallace. Daß Kardinal Ratzinger den Stoff nicht schon längst als Pflichtlektüre für den katholischen Religionsunterrichts vorgeschrieben hat, liegt vermutlich daran, daß der Autor eigentlich kein Schriftsteller war, sondern Bürgerkriegsgeneral, weswegen das skizzierte Spektakel ziemlich mörderisch geriet. Doch das beförderte die Auflage nicht unerheblich: 100 Dollar, so dachte Lewis Wallace anfangs in seiner Bescheidenheit, könne ihm Ben Hur pro Jahr wohl einbringen. Tatsächlich sah er sich in der Folge (zu seiner nicht geringen Überraschung) mit einem Vieltausendfachen überschüttet. Denn sein Buch erreichte eine Auflage, die nur noch von der Heiligen Schrift übertroffen wurde und die bis dato höchsten Tantiemen erzielte. Kein Wunder, daß sich bald auch der junge Film des Stoffes annahm. 1924/25 entstand der erste von zwei legendären Kinoklassikern mit dem Titel Ben Hur – ein opulenter Streifen, der nicht zuletzt deshalb berühmt geworden ist, weil er die ersten Farbsequenzen der Filmgeschichte enthält. 1987 hat der Amerikaner Carl Davis einen neuen Soundtrack für diesen Film geschrieben, mit dem nun das Münchner Rundfunkorchester unter der launig-exakten Leitung von Helmut Imig im Zirkus-Krone-Bau an der Münchner Marsstraße brillierte. Auf der überdimensionalen Leinwand ein großartiges filmisches Wechselspiel intimer Dialoge und überbordender Massenspektakel, live dazu mal herrlich sentimentale, mal beängstigend wuchtige Klänge – es war ein Fest für Augen und Ohren ...
Er war ein Tausendsassa. »Erste Liebhaber« spielte er und alternde Stutzer, Könige und Tyrannen, Vogelmenschen und Luftgeister, ehrliche Bürger und »ausg’schamte Elementer«. Die 61 Jahre seines Lebens sahen ihn in mehreren hundert Hauptrollen. Und nicht selten trat er innerhalb einer Woche in sieben unterschiedlichen Produktionen vor sein Publikum. Die urwüchsige Bühnenbegabung, die ihm in die Wiege gelegt war, ließ ihn nicht nur zu einem der wandlungsfähigsten und populärsten Schauspieler seines Jahrhunderts werden: Gleich tüchtig zeigte er sich als Textdichter. Er schrieb Gassenhauer wie das Volkslied Die Tiroler sind lustig, die Tiroler sind froh, in erster Linie aber Tragödien und Ritterdramen, Lokalpossen und Volksstücke, Opern und Operetten. An die hundert Bühnenwerke stammen aus seiner Feder – darunter das Libretto für Mozarts Zauberflöte: Mit der Figur des Papageno hat er sich hier selbst ein Denkmal gesetzt: ... Daß Emanuel Schikaneder das Locken und Pfeifen beherrscht, bewies er vor allem als Impresario. Denn er spielte nicht nur die Hauptrollen seiner eigenen Stücke, zu denen er gelegentlich die Musik schrieb. Er inszenierte sie auch noch selbst – mit rauschhafter, publikumswirksamer Leidenschaft. An Selbstbewußtsein fehlte es ihm nicht ... Hingerissen von der Lust am barocken Drama, das in Bayern und Österreich von Jesuiten und Benediktinern mit großem Engagement gepflegt worden war, huldigte er wie kaum ein anderer Theatermann seiner Zeit dem spektakulären Effekt. Seine Aufführungen übertrafen sich gegenseitig an Prunk und Illusion. Schikaneder galt bald als Magier der Verwandlung, als Meister der Sinnlichkeit, der mit pompösen Bühnenbildern, überbordenden Massenszenen, raffiniert ausgeklügelten Maschinen und phantastischen Flugwerken einen Bühnenzauber ohnegleichen zu entfesseln vermochte ...
Es krachte, zischte und fauchte. Im beißenden Pulverdampf stürzten geharnischte Ritter aus den Rabatten aufs imaginierte Schlachtfeld, schlugen mit feuerspeienden Schwertern und Streitkolben aufeinander ein. Durch den Funkenflug entzündeten sich Feuerräder und Leuchtröhren, die Sternbutzen ausspuckten. Mit gleißendem Schweif jagten Raketen über die Köpfe. Bomben blitzten – und Hunderte von Schwärmern jaulten um die kunstvolle Scheinarchitektur eines turmbewehrten Kastells, das den Blick zum Horizont verstellte. Unter dem Gebrüll der Mörser flog das Kastell schließlich in die Luft: Ein halbes Tausend ohrenbetäubender Kanonenschläge ließ den Boden erzittern, Flammensäulen schossen in den Himmel, ganze Wagenladungen von Knallsätzen und Musketensalven verwandelten den nächtlichen Schauplatz in ein prasselndes Armageddon. Hell lodernde Apokalypse, wohin man nur blickte. Es war ein höllisches Spektakel, das an jenem 14. Juli 1650 auf dem Sankt-Johannis-Schießplatz vor den Toren der freien Reichsstadt Nürnberg für Jubel, Ovationen und ein halbes Dutzend Ohnmächtige sorgte. Eingeladen dazu hatte der ehemalige Wallenstein-Vertraute und spätere Reichsfürst Ottavio Piccolomini, der seit 1649 als kaiserlicher Vertreter mit den Schweden den Westfälischen Frieden ausgehandelt hatte – ein Vertragswerk, das den Dreißigjährigen Krieg endgültig beendete und in Nürnberg unterzeichnet wurde. Das barocke Flammentheater auf dem Schießplatz – ein pyrotechnisches Meisterwerk, das Himmel und Erde gleichermaßen erleuchtete – wollte ein Friedensfeuer sein und den Willen zur Versöhnung allegorisch unterstreichen: Die untergegangene Festung stand für ›Mars‹ und ›Discordia‹, also für den Krieg. Gesiegt hatte der Friede – und zwar in Gestalt einer Göttin, deren Figur unversehrt aus dem Inferno hervorgegangen war und zum Ausklang des Feuerwerks von einem lodernden Flammenkranz wie ein Mahnmal beleuchtet wurde. Im Zeitalter des Barock war es schick, zur Krönung politischer und höfischer Zeremonien Feuerwerke abzubrennen ...
Er war gerade dabei, sich als Star zu etablieren: Michel Petrucciani, Sohn eines Neapolitaners und einer Französin, galt als eines der großen Talente unter den jüngeren Jazzpianisten ... Seine genialen Improvisationen und sein brillantes Spiel rückten seine Glasknochenkrankheit in den Hintergrund. Er selbst sah sich als Mittler zwischen Vergangenheit und Zukunft des Jazz. Noch vor wenigen Wochen sagte er gegenüber der Vogue: »So Gott will, bin ich jetzt in der Mitte meines Lebens angelangt: In der ersten Hälfte habe ich die Großen von gestern kennengelernt, jetzt, in der zweiten Hälfte, hoffe ich die Großen von morgen kennenzulernen.« Der Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen: Am 6. Januar 1999, wenige Tage nach seinem 36. Geburtstag, starb Michel Petrucciani in seiner Wahlheimat New York überraschend an einer Lungenentzündung. Eines seiner letzten Interviews gab Michel Petrucciani unserem Autor Klaus Reichold:
Vogue: Man erzählt, Sie hätten bei Ihrem ersten Auftritt in Deutschland zu Beginn der achtziger Jahre in einem ziemlich finsteren Club gespielt - vor zwei Leuten, von denen einer betrunken gewesen sei. Heute dagegen füllen Sie mit Ihren Konzerten mühelos die Dresdner Semperoper, die Berliner oder die Münchner Philharmonie. Das ist ja eine höchst erfreuliche Wendung ...
Petrucciani: Ja Gott sei Dank! Bei meinem zweiten Besuch in Deutschland waren es schon um die 80 Zuhörer. Zum Durchbruch in Deutschland hat mir aber erst Roger Willemsen verholfen. Wir lernten uns 1994 kennen, als er mich nach einem Konzert in London vor der Garderobe abfing: Er outete sich als langjähriger Fan, der alle meine Aufnahmen in seinem Regal stehen hatte, und fragte, ob ich Lust hätte, als eine Art Hauspianist in seiner Talkshow aufzutreten. Nach kurzer Bedenkzeit sagte ich zu - obwohl mir nicht ganz wohl dabei war, die nächsten vier Jahre jede Woche von New York oder Paris nach Hamburg fliegen zu müssen. Aber so eine Chance läßt man sich nicht entgehen. Fernsehen ist einfach ein magisches Medium. Ohne Rogers Show wäre ich in Deutschland nie so populär geworden. Außerdem bin ich durch die Zusammenarbeit mit Roger vielen sympathischen und interessanten Leuten begegnet. Dadurch habe ich Deutschland erst richtig kennengelernt - als ungewöhnlich offene, neugierige und kultivierte Nation.
Vogue: Ihre Auftritte in Willemsens Woche sind von der Kritik zum Teil mit bösen Worten kommentiert worden. So hieß es beispielsweise, Willemsen habe Sie nur deswegen in der Sendung, weil Sie behindert sind und so originell aussähen.
Petrucciani: Das ging damals unter die Gürtellinie. Ich weiß es nicht, aber ich denke, daß ich keinen Behindertenbonus habe. Auch Andrea Bocelli verdankt seinen Erfolg nicht der Tatsache, daß er blind ist, sondern daß er eine tolle Stimme hat. Stellen Sie sich vor, alle Blinden würden plötzlich anfangen zu singen. Ich glaube, daß sich die Menschen in meinem Fall wirklich für die Musik interessieren. Ich bin ein aufrichtiger, wahrhaftiger und ehrlicher Pianist. Und auch mir wird nichts geschenkt: Wer es nicht schafft, die einmal erreichte Aufmerksamkeit durch fortwährende überzeugende Leistung zu steigern oder wenigstens am Köcheln zu halten, verschwindet schnell wieder in der Versenkung.
Vogue: Ihre Glasknochenkrankheit scheint Sie ja auch nicht einzuschränken: Man rühmt Sie wegen Ihres harten, zupackenden Anschlags und schätzt Ihre akrobatisch-virtuosen Einlagen, die an Oscar Petersen erinnern.
Petrucciani: Danke für die Blumen! Daß ich so spiele, wie ich spiele, hat tatsächlich weniger mit meiner physischen Konstitution zu tun als mit harter Arbeit. Ich habe früh begonnen, Klavier zu spielen - weil mir das im Künstlerischen die Freiheit gibt, die mir in der Realität wegen meiner Krankheit versagt ist. Ich hatte zwölf Jahre klassischen Unterricht und übte zehn Stunden am Tag. Da bleibt nicht nur einiges hängen, da wächst auch die Lust, über die Grenzen hinauszugehen, das technisch gerade noch Machbare auszuprobieren.
Vogue: Menschen, die Schubladen brauchen, stecken Sie gerne in die der Traditionalisten.
Petrucciani: Dazu stehe ich aber auch. Ich mag alte Neapolitanische Volkslieder, Mozart und Rachmaninow, Prince und Michael Jackson. Dieses Erbe klingt bei mir mit. Nach meiner Überzeugung darf Jazz keine elitäre Musik sein, die nur eine Minderheit anspricht. Jazz soll populär sein, ein Genuß für viele - wenn auch nicht banal. Ich bin offen für alle Musikstile und musikalische Abenteuer. Und das faszinierende Miteinander verschiedenster Richtungen fesselt mich immer wieder. Jazz ist ein brodelndes Laboratorium, in dem es pausenlos zischt und kracht. Darin besteht für mich auch der Unterschied zur Klassischen Musik: Die Klassische Musik ist eine alte Dame, eine ehrwürdige Kathedrale. Ihr Reservoir an Formen und Variationen ist ausgeschöpft. Im Jazz dagegen ist noch nichts festgelegt, hier steckt noch alles in den Kinderschuhen. Der größte Vorzug des Jazz in meinen Augen: Er bietet eine große Spielwiese für Menschen wie mich, deren Bestimmung es ist, ein Kind zu bleiben.
Mein Gott, wie hat man uns in der Schule mit Goethens Faust sekkiert. Den Prolog vorwärts und rückwärts, in Auerbachs Keller hinunter, die Harzhöhen hinauf. Wenn der Doktor gleich zu Beginn der Tragödie ersten Teils meint, er zöge „schon an die zehen Jahr herauf, herab und quer und krumm“ seine „Schüler an der Nase herum“, dann sahen Generationen von Pennälern ihr ureigenstes Schicksal in knittelige Verse gegossen – um mit Verwunderung festzustellen, daß die Schulmeister offenbar nie den nächsten Satz gelesen haben. Dort nämlich heißt es, daß man nichts, rein gar nichts wissen könne - selbst wenn man gescheiter sei „als alle die Laffen, Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen“. Wäre anstelle der Lehrer Friedrich Wilhelm Murnau am Katheder gestanden, und hätte er - statt schulmeisterlich-lieblose Rhythmus-Analysen und langwierige Interpretationsversuche vorzunehmen – seinen 1925/26 entstandenen Faust-Film gezeigt, wäre der schulische Erkenntnisekel vermutlich so manchem erspart geblieben. Denn der große deutsche Filmregisseur der goldenen Zwanziger setzte mangels Ton ganz auf die Kraft der Bilder. Bei ihm wird Faust wirklich lebendig, bei ihm wird auch in Schwarzweiß mit allem Reichtum der Farben gezecht, getanzt und gestorben. Aus dem Gemetzel der Gefühle leuchten hilflose Angst und lüsterne Begierde, verzweifelte Ohnmacht und feurige Leidenschaft - und über allem triumphiert der Dämon des Bösen, mal als harmlos-animalischer, kumpelhafter Sparifankerl, mal als nahezu allmächtiger und unheimlicher Herr der Finsternis ...
Er hört Hunde reden, liest deren Briefe und glaubt, er sei König Ferdinand VIII. von Spanien. Die zunächst recht vage Ahnung, daß die iberischen Ferdinande doch spätestens mit dem Siebten dieses Namens ausregiert haben, bestätigt sich nach einem Blick in den Brockhaus und bekräftigt eine schon vorher leise angeklungene Vermutung: Der Mann spinnt, und sein Schloß ist ein Irrenhaus. Das merkt man aber erst nach und nach. Denn anfangs macht Herr Poprišcin einen durchaus ›normalen‹ Eindruck - wenn auch die Daten der Tagebucheinträge immer ungewöhnlicher werden und schließlich »86. Märzember lauten« ...
Einer seiner Vorfahren war um 1600 Sheriff von London. Er selbst spielt gern Robin Hood – wenn es sein soll, auch auf der Bühne ... Der 43jährige amerikanische Bariton und James-Bond-Fan Thomas Hampson ist mit seiner drahtigen Größe von fast 1, 95 Metern der ideale Mann für jedes Football- oder Baseball-Team. Und daß er in jungen Jahren bei einer Baufirma jobbte, um sein Taschengeld aufzubessern, paßt zu seiner zupackenden, unkomplizierten Art. Er sagt von sich selbst, er habe ein vorlautes Mundwerk und werde so lange seine Überzeugungen artikulieren, bis ihm jemand ein Messer in den Rücken ramme. Trotz aller Geradlinigkeit und Entschiedenheit ist Thomas Hampson kein Haudrauf. Der Liebhaber deutschsprachiger Lyrik, der auf Blütenpollen allergisch reagiert, ist von seiner Ausstrahlung her eher ein smarter Typ - und seinen ersten Gesangsunterricht bekam er von einer katholischen Nonne ... Er studierte an verschiedenen amerikanischen Universitäten Gesang, bevor ihn 1980 der deutsche Bariton Horst Günter unter seine Fittiche nahm. Gefördert auch von Elisabeth Schwarzkopf, unterschrieb er 1981 einen Vertrag als Ensemblemitglied der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf/Duisburg und wechselte 1984 an die Züricher Oper. Er debütierte in Köln, Hamburg, Wien und Salzburg. Seine Karriere ließ sich nun nicht mehr aufhalten ... Inzwischen schließt er nur noch Gastverträge ab, lebt aus dem Koffer und singt heute in Wien den Marquis Posa, morgen in London den Don Giovanni. Sein Opernrepertoire reicht von Monteverdi bis Henze. Daneben begeistert sich der passionierte Jazzliebhaber und Internet-User für das amerikanische Musical. Vier CDs mit Melodien von Irving Berlin über Cole Porter bis Kurt Weill hat er bislang aufgenommen. Die Tatsache, daß ihm wegen seiner Vielseitigkeit der Vorwurf gemacht wird, er sei ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen, quittiert er mit einem Lächeln: »Ich bin einfach Sänger und habe keine Lust, mich festlegen zu lassen auf Oper oder Musical. Ich mag keine Grenzen.« Deshalb vertieft er sich mit obsessiver Leidenschaft auch in die Welt deutschsprachiger Lieder ... »Ich will nicht als Thomas Hampson toll sein, sondern als Figaro - oder als einer, der Dichtern seine Stimme leiht, die uns die Zusammenhänge der Welt erklären.« Insofern sehe er sich nicht in der Rolle eines huldigungsgeilen Stars, sondern in der eines Priesters: »Ich will mit meinem Tun einen Beitrag leisten, daß die Menschen ihren Weg finden, daß sie aufwachen aus ihrer Narkose, ihren Gefühlen wieder Raum geben und erkennen, daß nichts für sich allein steht.« Das sei, wenn man so wolle, ein gesellschaftspolitischer Auftrag, dem sich die Musik als eine Form der Massenspsychologie stellen müsse.
Hans Pleschinski lebt gefährlich. Er zählt zu jener Sorte von Kettenrauchern, die noch von den fiesesten Pathologenwitzen unbeeindruckt bleiben. Er geht auch bei Rot über die Straße und läuft - trotz aller UV-Warnungen - im Sommer mit nacktem Oberkörper durch München. Ersteres ist in seinem Fall allerdings insofern kaum gefahrenträchtig, als er in einem Stadtteil lebt, in dem es praktisch keine Ampeln, dafür aber umso mehr Tempo-30-Zonen gibt. Und zweiteres passiert angesichts derart verregneter Sommermonate wie heuer relativ selten - abgesehen davon, daß er es sich leisten kann, Brust und Bauch blank zu zeigen: Für einen mittlerweile 42jährigen hat sich Hans Pleschinski neben seinem jungenhaften Charme eine ebensolche Äußerlichkeit bewahrt. Hinzu kommt: Hans Pleschinski ist Schriftsteller. Völlig undifferenziert der landläufigen Überzeugung hingegeben, Autoren schrieben grundsätzlich Autobiographisches nieder, erliegt man gern der Ansicht, solcherlei reflektierende Geister begäben sich aus beruflichem Interesse in ähnliche Extremsituationen, wie oben geschildert, um ihre daraus resultierenden Erfahrungen in Kurzgeschichten oder Romane münden zu lassen. Insbesondere die Orgienszene, die Pleschinski in seinem 1995 erschienenen Roman zur See mit dem Titel Brabant schildert, kam uns diesbezüglich verdächtig vor. Darauf angesprochen reagierte Hans Pleschinski, der gerne über den »klanglichen Wallungswert der Sprache« philosophiert, zwar bemerkenswert einsilbig. In der Regel aber, so sein Resümee, halte er Literatur, die das eigene Leben abphotographiere, für langweilig. Tatsächlich machte er 1984 mit einem Roman Furore, der genau die Selbstbetrachtung aufs Korn nahm ...
Der Titel klingt ja eher harmlos: „Die Gärtnerin aus Liebe“. Man denkt an Tulpenzwiebeln, Geranienkästen, Rosendünger und Gummihandschuhe – an ein stilles Mädchen, einfach, dem Schicksal ergeben. Auf die Züge, die Frances Lucey der Gärtnerin Sandrina gibt, will diese Typisierung durchaus zutreffen. In Peer Boysens Gärtnerplatz-Inszenierung mimt sie in der Tradition verhärmter Theologiestudentinnen die graue Maus – wie Pamela Anderson noch immer in einen Mann verliebt, der sie fast umgebracht hätte. Das spricht zwar fürs schauspielerische Talent von Frances Lucey, nicht aber für die Selbstachtung Sandrinas. Und doch ist Mozarts shakespearehaftes, amüsant-bitteres Singspiel über die Verwicklungen der Liebe für Peer Boysen offenbar ein Stück der starken Frauen. Und diese Frauen sind gut: Serpetta (Gabriela Bone) rotzt sich als frech kommentierendes, zynisches Gör mit der beneidenswerten Schlagfertigkeit einer wiesnerprobten Jungkellnerin durch die drei Akte. Und Arminda (Sandra Moon) rauscht als aufgeschrecktes Starlet-Huhn auf die Bühne, erweist sich als schnippisches Biest und schließlich gar als rasende Furie. Die Männer dagegen: Waschlappen, Pantoffelhelden und Weicheier ... Die unterkühlte Farbgebung der Bühne macht klar, daß „Die Gärtnerin aus Liebe“ trotz allen Klamauks und aller Komik ... auch ein tragisches Stück ist: Denn wann ist Liebe schon wirklich Glück?
Er war ein Familienmitglied. Ganze Generationen sind mit dem Käfer aufgewachsen, hielten ihm noch bis zum fünften Austauschmotor die Treue und kamen kaum über den Verlust hinweg, wenn ihm der TÜV endgültig den Segen verweigerte. Jahrzehntelang galt das bucklige Vehikel als Inbegriff des Autos - obwohl der Käfer zugegebenermaßen mindestens so viele Mängel hatte wie ein Hund Flöhe: Der Kofferraum war ein Witz, die Heizung funktionierte nur bei gutem Zureden, der Wagen galt als laut und häßlich. Und trotzdem war er überall mit von der Partie: bei der Hochzeit von Tante Berta in Wolfenbüttel, beim Badespaß am Wannsee, bei der Spritztour mit der Freundin ins Alte Land, bei der Alpenrundfahrt am Timmelsjoch und beim ersten Italienurlaub mit Kind und Kegel 1956 in Rimini. Der Käfer wurde zum Filmstar, zum Exportschlager, zum Kunstmotiv und zum Objekt der Begierde für Sammler und Bastler ...
Kinder der Traurigkeit sind sie nicht, die fünf Herren aus der wiedervereinigten Hauptstadt. Im Gegenteil - der Schalk sitzt ihnen im Nacken. Eine Auswahl von Werken “verstorbener und verschiedener Komponisten” hatten sie angekündigt - in der Hoffnung, “die Erwartungen, die wir übertreffen sollen, auch zu erfüllen”. Das gelang dem pfiffig-pointierten Blechbläserquintett der Berliner Philharmoniker mühelos - zum einen, weil die Besetzung an sich schon ungewöhnlich ist, zum anderen, weil das Repertoire die Grenzen zwischen “E”- und “U”-Musik schnöde negiert und Beatles-Songs ganz unorthodox mit Opern-Potpourris oder zeitgenössischen Werken kombiniert. Angesichts dieser himmelschreienden Unbormäßigkeit mag es manchem konservativen Klassikkonsumenten den frisch gestärkten Hemdkragen nach oben stellen. Dem Publikum in Aschheim jedoch gefiel die mit reichlich Satire angerührte Melange. Auf Sympathie stieß außerdem, daß hier jede Menge Blech vertreten war, das den brüchigen Mauern von Jericho durchaus gefährlich werden konnte. Doch das Quintett hielt sich angenehm bedeckt und trat den Beweis an, daß “Blech” und “Lärm” keine zwingende Konnation ist ...
Die Kohlroulade (süddeutsch “Krautwickerl”, von der Haute Cuisine euphorisch “roulade de chou” genannt) ist jahrhundertelang verkannt geblieben. Nicht, daß man ihren Vitamin-C-Gehalt oder ihren Nährwert unterschätzt hätte - darüber ist man sich seit Menschengedenken einig, vor allem in Notzeiten. Ihre bisweilen angegriffene ästhetische Erscheinung und ihr je nach Art der Zubereitung mehr oder weniger herbes Aroma nebst der damit verbundene, unaussprechlichen individualbiologischen Folgen haben allerdings bei kulinarisch maßgeblichen Kreisen Zweifel aufkommen lassen, ob der genüßliche Verzehr von dampfenden Kohlrouladen als Ausdruck guten Geschmacks oder als Fehlen desselben gewertet werden muß. Mit anderen Worten: Es ist eine ebenso wahre wie traurige Feststellung, daß es der Kohlroulade in breiten Kreisen der Bevölkerung an der nötigen Reputation gebricht. Wesentliche Impulse erfuhr die diesbezügliche Diskussion jüngst durch einen Herrn namens “Piano Paul”, der sich nach fundierter musikhistorischer Recherche nichts weniger als die Rehabilitation der Kohlroulade auf die Fahnen geschrieben hat und dem odiösen Gemüsegericht - flötistisch sekundiert von Heike Emmerling - beherzt und wortreich zur Seite sprang. Ergebnis: Die Kohlroulade hat - Geschmack hin oder her - von Bach bis Haydn eine ungeahnt wirkkräftige Rolle gespielt und muß deshalb - allen Einwänden zum Trotz - als “Kulturpflanze” bezeichnet werden ...