Normalerweise liegt die muschelförmige Piazza del Campo traumverloren in der Sonne. Eingerahmt vom leuchtenden Braunton ihrer ziegelgemauerten Palazzi ist sie ein Refugium müder Flaneure, die sich mit einem Eis gemütlich auf dem Pflaster des weiten, theaterartig ansteigenden Halbrunds niederlassen. Im Sommer aber verwandelt sich der Mittelpunkt der Stadt Siena, einer der eindrucksvollsten Plätze Italiens, in einen brodelnden Hexenkessel. Dann drängen sich Zehntausende auf der Piazza del Campo und fiebern einem Spektakel entgegen, das erst bei Sonnenuntergang beginnt, keine zwei Minuten dauert und die Emotionen bis zum Siedepunkt hochkochen läßt: Der Palio gilt als eines der härtesten Pferderennen weltweit.  

Er ist allerdings keine Touristenattraktion, sondern ein erbitterter Wettkampf unter jeweils zehn von insgesamt siebzehn senesischen Contraden (Stadtvierteln), deren Grenzen Prinzessin Violante Beatrice von Bayern, eine Tochter von Kurfürst Ferdinand Maria und dessen Gattin Henriette Adelaide, im Jahr 1729 festgelegt hat.  Schon Tage vor dem Rennen macht sich Unruhe in Siena breit. Zur „Tratta“, bei der den Contraden die Pferde zugelost werden, eilt die halbe Stadt – und selbst dem Mathematikprofessor Marco Lonzi steht die Anspannung ins Gesicht geschrieben.  

Er ist Prior der Contrade des Drachens und setzt auf die sechsjährige Stute namens Fedora Saura, die für „sein“ Stadtviertel antreten wird. Doch auch die benachbarte Contrade der Raupe hat gute Karten: Der Hengst Choci gilt ebenfalls als Favorit. Und Enrico Furiesi, der ehemalige Generalvikar der Erzdiözese Siena, läßt es sich trotz seiner 85 Jahre nicht nehmen, das Pferd vor dem Rennen im Gotteshaus der Contrade zu segnen und ihm einen unmißverständlichen Auftrag mitzugeben: „Choci, gehe hin und kehre zurück als Sieger!“. Das Rennen findet zwar unter dem Patronat der heiligen Maria statt, und die Trophäe des Siegers ist ein jeweils neu geschaffenes Seidenbanner mit der Darstellung der Gottesmutter. Doch es geht nicht zimperlich zu. Erlaubt ist alles, was den Gegner behindert. Dazu kommt die atemberaubende Geschwindigkeit: An der Kurve von San Martino, am unteren rechten Eck der Piazza del Campo, stapeln sich die Matratzen. Dennoch kommt es hier immer wieder zu spektakulären Stürzen – nicht selten mit gravierenden Folgen für Pferd und Reiter. Der Palio, so möchte man meinen, ist eine exklusive Herausforderung für kaltblütige Männer.  

Und doch holte schon im 17. Jahrhundert beinahe eine resolute, junge Frau mit wehenden blonden Haaren den Sieg. Heute spielen die Frauen in vielen Contraden die erste Geige. Das findet Emilio Giannelli richtig so, „denn eine Sache, die lebt, muß sich wandeln“. Der ehemalige Bankmanager – heute einer der bekanntesten und einflußreichsten Karikaturisten Italiens – lebt zwar draußen vor der Stadt am Fuße der Montagnola. Doch wer, wie er, in der Altstadt von Siena geboren worden ist, bleibt sein Leben lang Mitglied der entsprechenden Contrade – egal, wohin es ihn verschlägt. Das, so meint der gelernte Rechtsanwalt, habe große Vorteile. Denn die Contrade halte wie eine Familie zusammen. Man helfe sich gegenseitig, sei jederzeit füreinander da, profitiere voneinander. Das geht soweit, daß sich die Contradaioli (deren Gemeinschaft militärischen Ursprungs ist und aus den ständigen Konflikten zwischen den Stadtrepubliken Florenz und Siena erwuchs) von der Wiege bis zur Bahre die Treue halten. Erneuert wird diese Zusammengehörigkeit beim gemeinsamen Feiern: An den Abenden vor dem Palio verwandelt sich die ganze Stadt mit ihren Gassen und Plätzen in eine Kulisse üppiger Festmahle, an denen Tausende von Menschen teilnehmen. Als religiöser Höhepunkt gilt freilich die Kerzenprozession, die sich beim August-Palio unter Trommelwirbel und Trompetenstößen zum Dom bewegt und in einem Farbenmeer vor dem Hochaltar kulminiert.  

Trotzdem ist die Kerzenprozession nicht viel mehr als die Generalprobe für den Festzug am Tag des Palio, der endgültig den Ausnahmezustand in der Stadt einläutet: Jede Contrade ist mit Fahnenschwingern, Trommlern, Pagen, Feldherren und Fußvolk vertreten, die in bunten Kostümen zur Piazza del Campo ziehen, gefolgt von einem reich geschmückten, ochsenbespannten Kriegswagen mit der Siegestrophäe: dem Seidenbanner. Wenn sich dann Pferd und Reiter todesmutig in die mit Sand aufgeschüttete Bahn stürzen, kommt wieder „alles zum Ausbruch, was seit Jahrhunderten an Kämpfertradition, an Ehrgeiz, an alten Zerwürfnissen, an Ehren, Niederlagen und Triumphen noch im Bewußtsein der Bevölkerung dieser stolzen Stadt vorhanden ist“, wie Kasimir Edschmid, ein Schriftsteller des 20. Jahrhunderts vermerkt. Er befindet sich in bester Gesellschaft: Schon Dante, Boccaccio, die heilige Katharina von Siena, Niccoló Macchiavelli und Aldous Huxley haben über den Palio geschrieben, ohne sein letztes Geheimnis enträtseln zu können. Das vermag vermutlich nur, wer selbst ein gebürtiger Senese ist.

 

Buch: Klaus Reichold
Regie: Thomas Endl
Kamera: Michael Stier
Schnitt: Petra Knorr
Kameraassistenz: Stephan Schmidt
             

Erstsendung am 01.06.2008
im Bayerischen Fernsehen
Länge: 30 Minuten

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