Aus welcher Richtung man auch immer nach Passau kommt: Der Dom beherrscht die Silhouette der Stadt. Mit seiner majestätischen Doppelturmfassade und der zwiebelbekrönten Vierungskuppel thront er zwischen Donau und Inn auf dem Altstadthügel hoch über dem Gewirr der Gassen – ein Monument barocker Prachtentfaltung und ein Zeugnis gelebten Glaubens.
Für Gästeführerin Anneliese Hertel ist die Mutterkirche des einstmals größten Bistums des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation »Heimat und Teil meines Lebens«, die Sekretärin Maria Höllrigl erlebt hier »Schönheit, Harmonie und Licht«. Altbischof Franz Xaver Eder vergleicht den Passauer Dom mit einer Insel in einem Fluß. Und auf den Lyriker Reiner Kunze wirkt der mächtigste barocke Kirchenbau Süddeutschlands mit seinem gotischen Ostchor wie »ein kreuzmastsegel, an dem, matrosen gleich, steinmetze klettern«. Es gibt aber auch andere Stimmen. »So schön er auch ist, der Passauer Dom, er ist einfach zu groß. Wahrscheinlich liegt das an der Mentalität dieser Bürger. Die brauchen ja auch gleich drei Flüsse, einer allein reicht ja nicht«, meint Walter Landshuter, Wirt des legendären ›Scharfrichterhauses‹, der Kabarettbühne in Passau. Trotzdem hat der ehemalige Ministrant seinen Frieden mit dem Dom geschlossen: »Das barocke Lebensgefühl, das gerade durch die katholische Kirche ausgedrückt wird, gehört zu unserer Mentalität einfach dazu«.
Über eine Million Touristen pro Jahr besuchen den Passauer Dom. Sie bewundern den üppigen Fresken- und Skulpturenschmuck, lassen sich gefangennehmen von der expressionistischen Bildsprache des modernen Hochaltars oder lauschen den täglichen Mittagskonzerten: Mit 17 974 Pfeifen und 233 klingenden Registern, darunter ein Glockenspiel und ein Zimbelstern, ist die Passauer Domorgel die größte Kirchenorgel Europas und die Attraktion des Domes. Selbst Ludwig Ruckdeschel, der Domorganist, läßt sich immer wieder begeistern von der nahezu unbegrenzten Klangvielfalt seines Instruments: »Die Auswahl ist ja nirgends so groß wie hier«. Wolfgang Eisenbarth, der die Orgel vor über zwanzig Jahren mit seinem Vater ersonnen und gebaut hat, kennt ihr Innenleben wie seine Westentasche. Um sie zu stimmen, verschwinden er und seine Mitarbeiter hinter unscheinbaren Türen und betreten eine andere Welt – eine riesige, begehbare Maschine, ein technisches Wunderwerk mit haushohen Pfeifen, kilometerlangen Kabelverbindungen und der sogenannten ›Fernorgel‹ auf dem Speicher des Mittelschiffs.
Gute 30 Meter tiefer, unter den schweren Bodenplatten des Presbyteriums, ruht die personifizierte Geschichte des Bistums Passau. Nur zweimal im Jahr – an Allerseelen und am Todestag des zuletzt verstorbenen Bischofs – wird die Krypta geöffnet. »Mich berührt das natürlich sehr persönlich, Stufe für Stufe herunterzugehen in diese Gruft, wo ich weiß, daß man mich eines Tages heruntertragen wird, ohne daß ich wieder hinaufgehe«, meint der heutige Altbischof Franz Xaver Eder, der auch schon sein Grab kennt: »Zweite Reihe, links – das wird wohl die Koje sein, in der ich auf die Auferstehung warte.« Vorerst freut er sich aber noch an der heiteren Pracht ›seines‹ Domes, der so viele weibliche Darstellungen birgt wie kein anderes Gotteshaus nördlich der Alpen. Selbst die päpstliche Tiara wird in Passau von einer Frau getragen – von der Personifikation der Katholischen Kirche.
Dazu paßt, daß der amtierende Passauer Bischof Wilhelm Schraml, der – musikalisch talentiert – schon im Alter von 17 Jahren auf der Passauer Domorgel spielte, ein großer Marienverehrer ist. Nicht selten hält er vor dem Gnadenbild der Muttergottes unter der Orgelempore inne, »um hier einfach ruhig zu sein, stille zu sein, abschalten zu könne und Gott zu begegnen«. Das ist in seinen Augen auch die eigentliche Aufgabe, die der Dom zu erfüllen hat: »Hierher kommt der Mensch und bringt all’ das mit, was ihn in seinem Alltag bewegt an Freude, an Leid, an Not, an Sorge und Kummer. Er trägt es hier herein. Und wenn er hier im Dom verweilt und diesen Raum in seiner Architektur, in seiner faszinierenden Ikonographie und in seiner Farbigkeit auf sich wirken läßt, dann soll ihn das hinführen zu Gott. Deshalb ist für mich der Passauer Dom – als Überschrift könnte ich sagen – der Himmel auf Erden.«
Buch: Klaus Reichold
Regie: Thomas Endl
Kamera: Mike Steffl
Schnitt: Susanne Droege
Kameraassistenz: Jan Hochhaus
Erstsendung am 19.01.2005
in der Reihe Stationen
im Bayerischen Fernsehen
Länge: 45 Minuten