Ein Krimi aus dem 14. Jahrhundert
Mit seinen verwinkelten Gassen und verträumten Plätzen, mit seinen malerischen Fachwerkhäusern, Toren und Türmen gilt Rothenburg ob der Tauber weltweit als Inbegriff deutscher Romantik. Hinter dem schönen Schein der „Märchenstadt“ verbirgt sich allerdings ein dunkles Geheimnis: Wie ist Bürgermeister Heinrich Toppler, dem Rothenburg sein Stadtbild, seine gewaltigen Mauern und seinen Aufstieg zu einer der bedeutendsten Regionalmächte Süddeutschlands verdankt, im Juni 1408 wirklich umgekommen? Und warum überhaupt hatten ihn die Rothenburger Ratsherren in jenem finsteren Gewölbe tief unter dem Rathaus eingesperrt – im sogenannten „Staatsverlies“, das noch immer im Originalzustand erhalten ist?
Geboren etwa 1348, zur Zeit der großen Pest, war Heinrich Toppler drei Jahrzehnte lang der führende Kopf der Stadt. Die Bilanz seiner Amtszeit kann sich sehen lassen: Dem verarmten Landadel kaufte er Dorf um Dorf, Wald um Wald und Mühle um Mühle ab, bis Rothenburg von einem 400 Quadratkilometer großen Sicherheits- und Versorgungsgürtel, der sogenannten „Landhege“ umgeben war. Mit ihren ertragreichen Äckern, Fischteichen, Forsten und Viehweiden war sie trotz der katastrophalen Ernten und der eklatanten Klimaschwankungen jener Tage eine Goldgrube: Rothenburg lebte vom Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen – und wurde reich damit. Kaufmannsfamilien aus der Tauberstadt belieferten die großen Messen von Nördlingen und Frankfurt. Und dank des Fernhandels trank man sogar in den Niederlanden Wein aus der Tauberstadt. Das Leben pulsierte. Rothenburg erlebte die größte Blüte seiner Geschichte.
Als ranghöchster Diplomat und Feldhauptmann des Schwäbischen Städtebundes war Heinrich Toppler gleichzeitig einer der wichtigsten Männer in Süddeutschland. In Frankfurt verhandelte er mit den Fürsten, in Prag mit dem König. Seine Freundschaft mit Wenzel „dem Faulen“, dem Sohn Kaiser Karls IV., wurde zur Legende. Sein Vermittlungsgeschick und seine Vertrauenswürdigkeit brachten ihm sogar beim politischen Gegner hohes Ansehen ein. Heinrich Toppler, der eigentlich mit Fischen, Getreide, Holz, Pferden, Wein und Wolle handelte und den „Goldenen Greifen“ betrieb, ein bis heute existierendes Gasthaus in der Nähe des Rothenburger Marktplatzes, war der wohl mächtigste Bürgerliche seiner Zeit. Auch das Privatvermögen des ebenso kaltblütigen wie vielseitigen Tausendsassas scheint beträchtlich gewesen zu sein: Sein Besitzverzeichnis listet 333 bäuerliche Anwesen auf, außerdem 28 Waldstücke, elf Weiher sowie zahlreiche Weinberge, Grundstücke und Mietshäuser. Damit war Heinrich Toppler nicht nur der größte Grundherr, sondern auch der vermögendste Bürger in Rothenburg. Er zahlte die meisten Steuern, stiftete Unsummen für kirchliche Zwecke und überbrückte kurzfristige Insolvenzen der Stadt, indem er das fehlende Geld privat vorstreckte.
In den Augen der alteingesessenen Ratsgeschlechter galt der Enkel eines nach Rothenburg eingewanderten Bauern jedoch als Emporkömmling. Immer wieder schlugen ihm Neid und Mißgunst entgegen – unter anderem, weil er sich im Taubertal, unterhalb der Stadt, ein noch heute erhaltenes, befestigtes Lusthaus errichten ließ, oder weil er eine selbstbewußte Familienpolitik betrieb und seine Kindern mit den Sprößlingen der angesehensten Nürnberger Patriziergeschlechter verheiratete. War Heinrich Toppler im Lauf der Jahre wirklich zu einem Tyrannen geworden, der seine Stellung und seine Macht mißbrauchte? Jedenfalls verdüsterte sich der Himmel über Rothenburg. 1408 zeichnete sich am Horizont eine Belagerung der Stadt ab. Auf der Suche nach Verbündeten verhandelte Heinrich Toppler im Geheimen mit dem abgesetzten König Wenzel IV. Doch die Sache flog auf. Rothenburg kam in die Reichsacht. Die Stadt blieb zwar verschont. Aber der Burgenring der „Landhege“ wurde gebrochen, die Ernte eines Jahres vernichtet.
Der Sündenbock dafür war bald gefunden: Heinrich Toppler. Am 30. März 1408 wurde er während einer Ratssitzung überwältigt und ins Staatsverlies geworfen. Acht Wochen später war er tot. Die Akten der Stadt, sonst penibelst geführt, haben hier eine auffällige Lücke. Gab es einen Prozeß, ein Urteil? Die Umstände geben dem Ganzen jedenfalls den Charakter eines Justizmordes. Dafür wurde Heinrich Toppler nach seinem Tod schnell zum Mythos – als der Mann, der Rothenburg Ansehen, Macht und Glanz verliehen hat wie keiner zuvor und keiner danach.