Die "Goldenen Zwanziger" in Oberbayern - Sonderausstellung im Freilichtmuseum Glentleiten
Audio-Rezension von Klaus Reichold & Thomas Endl
Die „Goldenen Zwanziger“: Wer denkt da nicht an die schillernde Metropole Berlin, an Tanztees mit Jazzbands in den Foyers mondäner Hotels, an Vorführungen von „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ in den legendären Filmpalästen der Stadt, an glamouröse Varietés mit zweifelhaftem Publikum und sündige Nächte voller Sex, Rausch und Drogen?
Dank der Krimiserie „Babylon Berlin“, deren dritte Staffel ab Herbst 2020 im Ersten ausgestrahlt wird, wissen wir zwar mittlerweile, dass auch vor hundert Jahren galt, was der Dramatiker Friedrich Hebbel 1836 in seinem Tagebuch notiert hatte, nämlich: „Es ist nicht alles Gold, was glänzt“. Trotzdem ist es schon eine gehörige intellektuelle Herausforderung, die „Goldenen Zwanziger“ mit dem Alltag im ländlichen Oberbayern zusammenzubringen: „Babylon Berlin“? Ja, klar! Aber „Babylon Baiernrain“? Hilfe!
Macht sich die Ausstellung des Etikettenschwindels schuldig?
Nein, im Gegenteil. Denn im Titel der Ausstellung stehen die „Goldenen Zwanziger“ in Gänsefüßchen. Das passt nicht nur besser zum bäuerlichen Ambiente. Das lässt auch erahnen, dass sich die Ausstellungsmacher um Kurator Jan Borgmann (der auf der Glentleiten für die „Volkskundliche Sammlung“ zuständig ist) selber gefragt haben, ob und wenn ja, in welcher Hinsicht die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts in Oberbayern als Blütezeit bezeichnet werden können.
Und letztlich klingt nicht nur in der Ausstellung, sondern auch in den vertiefenden Katalogtexten durch: Die „Goldenen Zwanziger“ bleiben in erster Linie tatsächlich ein (groß-)städtisches Phänomen. Denn die wirklichen Umwälzungen – etwa die sich verändernden Geschlechterrollen – kommen auf dem Land teilweise erst nach dem Zweiten Weltkrieg an.
Trotzdem ist die Ausstellung gelungen. Denn sie bietet einen ebenso konzentrierten wie kompakten Überblick über die „Goldenen Zwanziger“, die im Französischen nicht von ungefähr als die „Verrückten Jahre“ apostrophiert werden. Gleichzeitig richtet sie ihren Fokus auf den Alltag und illustriert das Ganze mit anschaulichen Beispielen aus Oberbayern. Da bleibt nichts im luftleeren Raum hängen.
Stattdessen erfahren wir als Ausstellungsbesucher, wie sich die „Goldenen Zwanziger“ zwischen Berchtesgaden und Oberammergau konkret angefühlt haben müssen: An Hörstationen kann man sich aus der „Staffelsee-Chronik“ vorlesen lassen, aus Lion Feuchtwangers „Erfolg“ oder aus Oskar Maria Grafs „Das Leben meiner Mutter“. Der Stummfilm „Miss Evelyne, die Badefee“ aus dem Jahr 1929 lässt uns in die damals schon verblasste Atmosphäre des mondänen Kurbades Reichenhall eintauchen. Und der monströse, mit dunkelgrünem Leder bezogene „Rollstuhl eines Kriegsversehrten“, den der Heimatverein Ohlstadt als Leihgabe zur Verfügung gestellt hat, erinnert uns daran, dass die „Goldenen Zwanziger“ eine Vorgeschichte voller Blut, Schweiß und Tränen haben.
Der Rückblick auf das industrialisierte Gemetzel des Ersten Weltkriegs, der unter anderem durch eine Votivtafel aus der Wallfahrtskirche in Föching bei Holzkirchen ergänzt wird, hilft bei der Einordnung – ebenso der Verweis auf die kurzlebige Räterepublik. Zu ihrer blutigen Niederschlagung ruft ein Plakat des berüchtigten, in seiner Bedeutung aber ziemlich überschätzten „Freikorps Werdenfels“ auf: „Herunter von den Bergen! Heraus aus Euren Tälern! Es gilt dem Spartakus den eisenbeschlagenen Schuh ins Genick zu setzen.“
Die Schatten jener Ereignisse sind lang und reichen tief in die „Goldenen Zwanziger“ hinein: Die kriegsbedingten Staatsschulden und die Reparationsforderungen gehören zu den Auslösern der Inflation, auf deren Höhepunkt ein Paar Herrenstiefel Ende Oktober 1923 sagenhafte 230 Milliarden Mark kostet.
Gleichzeitig werden überall im Land Kriegerdenkmäler errichtet. Ihre zwiespältige Rolle als psychologisch unverzichtbare Orte der Trauer und als Schauplätze fragwürdigen, pathetisch aufgeladenen und politisch instrumentalisierten Heldengedenkens beleuchtet auch ein ausführlicher Beitrag im Katalog. Das dürfte manchen Hurra-Patrioten von heute, die in Krieger- und Soldatenkameradschaften organisiert sind, nicht gefallen.
Die Tatsache, dass nach 1918 landauf landab die Männer und die Pferde fehlen, weil sie zu Hunderttausenden auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs verblutet sind, führt allerdings auch zu Innovationen: Die Motorisierung der Landwirtschaft nimmt Fahrt auf – und der Strom, erzeugt beispielsweise im 1924 fertiggestellten Walchenseekraftwerk, hält auch auf dem Land seinen Einzug. Die elektrisch betriebene „Singer mit Motor und Nählicht“ verspricht „Häusliches Glück“ – und dank des „vollständig selbständig arbeitenden Dampf-Wasch-Automats“ der Firma Liebig aus Berlin wird jeder „Waschtag“ zum „Freudentag“.
Auch in anderen Bereichen bricht „Eine Neue Zeit“ an: Die Naturburschen zieht es samt ihrer weiblichen Begleitung in die Berge, die dank Bus und Bahn inzwischen auch für Ausflügler aus dem Flachland bequem erreichbar sind. Die Ambitionierteren brettern auf Holzskiern der Firma Hofbauer aus Murnau tief verschneite Hänge hinunter oder schließen sich dem „Radfahr Club Huglfing“ an, wo man sich 1924 nicht in Funktionskleidung auf den Sattel schwingt, sondern stilsicher in Anzug und Krawatte. Freunde des noch jungen Kinos kommen im Lichtspielhaus in Lenggries auf ihre Kosten, wo Ende Mai 1928 der Streifen „Bob als Autohändler“ läuft. Und wer schon glücklicher Besitzer eines Radios ist, kann Schlager hören und sich mit der Berliner Diseuse Claire Waldoff fragen: „Was macht der Maier am Himalaya?“.
Selbst die Jüngsten sind damals offenbar schon medienaffin. Sie hantieren zwar nicht mit einem Smartphone, haben zum Geburtstag aber möglicherweise ein Pigmyphone auf dem Gabentisch vorgefunden – ein Kinder-Grammophon der Bing-Werke in Nürnberg.
Dass diese Jahre auf dem Land dennoch keine wirklichen „Goldenen Zwanziger“ sind, zeigt sich etwa daran, dass trotz des technischen Fortschritts die meisten Baugruben – beispielsweise in Wamberg im Schatten des Wettersteingebirges – noch von Hand ausgehoben werden. Selbst die Damenmode bleibt verhalten. Jetzt sind zwar Pelzkragen en vogue – wie der ausgestellte Rotfuchs aus Hohenpeißenberg, den die fashionable Großbäuerin an den hohen Kirchtagen zur Schau trägt. Außerdem bekommt der traditionelle „Priener Festtagshut“ Konkurrenz. Denn neuerdings gilt der „Topf- bzw. Glockenhut“ als letzter Schrei. Aber unter dieser topmodischen Kopfbedeckung versteckt sich auf dem Land in aller Regel kein „Bubikopf“, sondern höchstens eine Dauerwelle.
Die Verharrungskräfte sind groß. Und die Not bleibt – selbst nach Ende der Inflation, als das Schlimmste überstanden scheint. Deshalb treibt auch der Wilderer noch immer sein Unwesen, wie es die Patronen beweisen, die 1925 im ausgehöhlten Balken einer Almhütte bei Schleching versteckt worden sind. Er könnte zwar behaupten, nur deshalb dem „Jagdfrevel“ nachzugehen, weil er seine Familie irgendwie durchbringen muss. Trotzdem bleibt zu hoffen, dass er nicht den neuesten Schwindlern aufsitzt, die sich just in jenen Tagen in Stellung bringen, um nach der Macht zu greifen. Das illustriert eine Zeitungsannonce im Weilheimer Tagblatt. Die NSDAP-Ortsgruppe Murnau lädt zu einem Vortrag. „Achtung Deutsche Volksgenossen“ heißt es da, „Erscheint in Massen! Nächsten Sonntag, den 6. Mai nachmittags ½ 4 Uhr spricht der Führer der deutschen Freiheitsbewegung Adolf Hitler in großer, öffentlicher Versammlung in der Turnhalle zu Murnau über 'Der Nationalsozialismus – Deutschlands Zukunft'“. Der Zusatz lautet: „Juden ist der Besuch verboten“.
Wir kommen zum Fazit und damit zur Frage: Hut ab oder Kopf ab?
Die Ausstellung im neuen, 2018 fertiggestellten Eingangsgebäude des Freilichtmuseums Glentleiten wirkt optisch einladend und ist überwiegend chronologisch, jedenfalls überzeugend gegliedert. Sie erzählt in 16 Kapiteln (für die man vermutlich einheitlichere, pfiffigere, trennschärfere Überschriften hätte finden können) vom Alltag auf dem Land zwischen dem Ersten Weltkrieg und dem heraufdräuenden „Dritten Reich“.
Es geht unter anderem darum, wie sich Krieg, Revolution und Inflation auf das ländliche Leben ausgewirkt haben, wie man damals gebaut, die Arbeit in Haus und Hof bewältigt, gekocht und sich in freien Stunden vergnügt hat.
Manche Themen, die wir in einer Ausstellung dieses Zuschnitts erwartet hätten, bleiben unberührt. So fehlt beispielsweise ein Blick auf die Volksmusik – oder auf Richard Strauss, der in jenen Jahren seinen Landsitz im nahen Garmisch hatte. Dafür nimmt die Mode in der Ausstellung wie im Katalog einen überraschend breiten Raum ein. Andererseits ist klar: Jeder Kurator hat seine eigenen Schwerpunkte – und eine Ausstellung, die mit einer Fläche von rund 200 Quadratmetern auskommen muss, kann nicht jedes Thema ausbreiten.
Insgesamt gibt die Schau einen ebenso kompakten wie kurzweiligen Einblick in ein grundlegendes Dezennium des 20. Jahrhunderts. Für die Hörer des bavaricum@histonauten bietet sie darüber hinaus die ausgezeichnete Gelegenheit, sich auf den inhaltlichen Schwerpunkt der kommenden beiden Semester vorzubereiten. Denn im Herbst 2020 beginnt bei uns – als Fortsetzung unserer Betrachtungen zum Ende der Monarchie und zur Revolution im Jahr 1918 – die Reihe „Bayern in den 1920-er Jahren“.
Also: Die Histonauten sagen „Hut ab!“, vergeben 4 von 5 Luftschiffen und raten: Schauen Sie sich die Ausstellung an. Sie läuft noch ziemlich genau eine Woche, nämlich bis zum 14. Juni 2020, und befindet sich quasi „im Endspurt“. Aber fahren Sie bitte nicht alle am selben Tag hin! Coronabedingt dürfen sich nämlich nur 13 Personen gleichzeitig in der Ausstellung aufhalten.
Wir wünschen erkenntnisreiche Stunden und verbleiben mit den besten Grüßen
Klaus Reichold und Thomas Endl
Eine Neue Zeit – Die „Goldenen Zwanziger“ in Oberbayern
Sonderausstellung im Freilichtmuseum des Bezirks Oberbayern an der Glentleiten
82439 Großweil, Telefon 08851 / 85 – 0, www.glentleiten.de
Noch bis Sonntag, 14. Juni 2020
Öffnungszeiten: täglich von 10 bis 17 Uhr
Eintrittspreise: www.glentleiten.de/Ihr-Besuch/Eintrittspreise
Fotorundgang durch die Ausstellung:
www.glentleiten.de/Unser-Programm/Sonderausstellungen/Eine-Neue-Zeit/Fotorundgang
Jan Borgmann und Monika Schütz (Hg.): Eine Neue Zeit – Die „Goldenen Zwanziger“ in Oberbayern
München 2019 (Volk Verlag)
204 Seiten, zahlreiche historische Abbildungen, Preis: 24,90
Homepage zum Katalog: https://volkverlag.de/shop/eine-neue-zeit-2/
Inhaltsverzeichnis des Katalogs: https://d-nb.info/1175129194/04